Nach der Europawahl: „Die politische Linke muss eine neue Idee von Fortschritt entwickeln“

Wie Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands, die Wahlergebnisse einordnet

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Bei der Europawahl 2024 gab es einen deutlichen Rechtsruck, in Deutschland wurde die AfD sogar zur zweitstärksten Kraft. Was bedeutet das Wahlergebnis für Europa, was für Deutschland und wie steht es nun um die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft?

Im folgenden Interview ordnet Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands, die Europawahl ein in ein größeres Bild, äußert sich zur EU-Kommission und verrät, was ihm jetzt Hoffnung macht.

Wohin steuert Europa nach der Wahl?

Michael Müller: Ein neuer Nationalismus und eine völkische Ideologie konnten in eine Lücke stoßen und machen sich nun breit. Ich will das kurz erklären.

Die beiden wichtigsten Antworten auf die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges waren der Wille zu Aussöhnung und Frieden sowie der Sozialstaat. Diese Antworten sind heute allerdings erschöpft: Das Wirtschaftswachstum, ohne das der Sozialstaat nicht auskommt, ist an seine ökologischen Grenzen gestoßen. Und der Frieden ist stark gefährdet durch den Weltordnungskrieg in der Ukraine. Parallel geht es in der Politik nicht mehr um große Ideen, sondern nur noch um einfache Weltbilder.

Diese gefährliche Mischung aus dem Ende des keynesianisch-sozialstaatlichen Wegs und neuen Konfrontationen schlägt in den EU-Staaten nun durch. Das Alte ist vorbei, aber das Neue existiert noch nicht. Und in dieser Lücke machen sich ein neuer Nationalismus und eine völkische Ideologie breit.

Wohin wird uns diese Entwicklung führen?

Wohin das alles geht, entscheidet sich vor allem in drei Ländern, die in absehbarer Zeit Wahlen haben: in Frankreich und Großbritannien, wo sie unmittelbar bevorstehen, sowie in Deutschland, wo die politische Konstellation zerbröselt. Und das alles geschieht vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges, wo es nur noch um militärische Eskalation geht, statt nach Frieden und gemeinsamer Sicherheit zu suchen.

Wenn die politische Linke es nicht schafft, eine neue Idee von Fortschritt zu entwickeln – und auch dafür zu kämpfen –, dann müssen wir bald von nationalistischen Mehrheiten in der EU ausgehen, dann ist der Kampf verloren.

Was forderst du konkret?

Die politischen Strukturen müssen neu gefestigt werden. Es reicht nicht aus, große Demonstrationen gegen rechts und den neuen (oder alten) Nationalismus zu organisieren, wenn die Inhalte eines neuen Fortschritts nicht klar sind. Dann „verflüssigt“ sich das Nachkriegserbe weiter und die EU wird schnell an Bedeutung verlieren.

Die EU-Kommission spielt schon heute eine schwache Rolle. Sie bringt den Prozess der programmatischen Erneuerung der europäischen Idee einfach nicht voran. Sie bleibt eingemauert in ihrer Abhängigkeit von den USA, statt endlich zu einer „Europäisierung Europas“ zu kommen, wie der frühere Bundeskanzler und NaturFreund Willy Brandt es einst gefordert hatte.

War es das nun mit der sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft?

Der europäische Green Deal reichte zu kurz. Das ist klar. Die Transformation schreitet voran, angetrieben von Wirtschafts- und Finanzinteressen. Der Markt dominiert. Von daher muss die Transformation sozial und ökologisch gestaltet werden. Nur scheint das in Brüssel bisher noch nicht verstanden worden zu sein.

Diese Gestaltung hat zwei gleichgewichtige Säulen: die soziale und die ökologische Gestaltung der Marktprozesse. Anders kann es nicht funktionieren. Ich bin auch nicht sicher, ob Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Tragweite der Klimakrise verstanden hat.

Zurück zur Frage: Natürlich war es das noch nicht mit der sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft. Es ist nur klar: Die EU-Politik muss überarbeitet und präziser werden. Die Naturprozesse zwingen uns bereits zum Handeln. Die Frage bleibt, ob dieses Handeln nicht zu spät kommen wird. Denn die Klimakrise hat in sich selbstverstärkende Prozesse, die dann nach menschlichem Maßstab nicht mehr zu stoppen und somit irreversibel sind.

Also: Die Klimakrise wird sich verschärfen, weil die nationalistischen Regierungen überwiegend der Dummheit der Klimaleugner anhängen.

Was hilft deiner Meinung nach gegen die immer stärker werdende extreme Rechte?

Die Idee eines sozial-ökologischen Fortschritts, verbunden mit mehr Demokratie und Gerechtigkeit. Europa muss die Ideen ernst nehmen, die von wichtigen europäischen Regierungschefs erarbeitet wurden: Nord-Süd-Solidarität von Willy Brandt, Gemeinsame Sicherheit von Olof Palme und Nachhaltigkeit von Gro Harlem Brundtland. Wir brauchen eine kraftvolle europäische Kultur der Gemeinsamkeit.

In Ostdeutschland ist die AfD jetzt stärkste Kraft. Was erwartest du für die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September?

Die Unzufriedenheit wird die nationalistischen Parteien stärken, ebenso die Angst vor einer schlechter werdenden Zukunft – denken wir nur mal an Mieten, Sozialsysteme, Infrastruktur, Kosten für Energie und Lebensmittel. Aber da ist noch vieles mehr.

Wenn es so weitergeht wie derzeit, kann es nicht wie bisher weitergehen. Die AfD ist ein leistungsloser Gewinner, eine Ansammlung der Rechthaber, Unzufriedenen und Nationalisten.

Trotz alledem: Was macht dir Mut?

Die NaturFreunde. Leider sehe ich kein gemeinsames Vorgehen der Umwelt- und Naturschutzverbände. Dass zumindest bei uns der „Frieden in Bewegung“ ist, ist gut. Wir brauchen aber eine breite Bewegung der Zivilgesellschaft.

Wir müssen mehr Demokratie wagen und die beiden großen Fragen – Ökologie und Soziales – miteinander verbinden und zur Leitlinie in Wirtschaft und Gesellschaft machen.

Und natürlich: Wir brauchen eine Friedensinitiative in Europa, für Europa.

Fragen: Samuel Lehmberg